Wie die Tage kürzer werden

und du den längeren Atem kriegst

unter dem Himmel aus nassem Karton.

 

Ich tausche für nichts mein Stummsein,

außer du lügtest mich endlich an,

mit dem, was ich seit acht Tagen hören will.

 

Nein, lies mir es nicht von den Augen,

bleibe wenigstens dir selber treu.

Ich brauche kein fremdes Mitleid,

bin nicht mal mein eigenes wert.

 

Ins Wasser auf Sand gebaut

hab ich mein Daheim,

finde nicht mehr hin.

 

Sind das dort am  Strand

die weißen Kittel von ertrunkenen Ministranten?

Oder ist das der erste Reif,

der erste Reif in Rimini?

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(Musik: Peter Wolf / Text: André Heller)

 

 

 

Helmut Lederer

 

DER ERSTE REIF IN RIMINI

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Er sitzt in dieser kleinen Bar, ist der einzigste Gast, kein Wunder, es ist November. Die Wolken hängen tief und grau über der Adria, vereinen sich am Horizont mit dem Meer, ohne daß man eine Trennungslinie sehen kann. Der Himmel und das Meer sind ein einziges Element, denkt er, sieht diesen Satz bereits auf Papier und sucht nach seinem Kugelschreiber. Solche Sätze notiert er sich gerne, man kann sie vielleicht später irgendwo noch einmal verwenden. Manchmal glaubt er, daß er alle seine Sätze, die er schreibt, irgendwo schon einmal geschrieben hat. Auch alle Worte , die er spricht, hat er irgendwann schon einmal gesagt. Zur Zeit spricht er aber eher wenig.

 

Er ist Schriftsteller und jetzt hat er seinen Kugelschreiber gefunden und schreibt in seinen Block, der vor ihm auf dem Tisch liegt: Der Himmel und das Meer sind ein einziges Element. Er trinkt ein Schluck von seinem Bier und nimmt sich eine Zigarette aus der Schachtel, während er nachdenkt. Woran erinnert ihn dieser Satz? Das Leben und der Tod gehören zusammen. Nein, das ist ein anderes Thema, das hat nichts miteinander zu tun. Er beobachtet eine Frau mit einem Kinderwagen, die auf dem Bürgersteig der Uferpromenade entlang läuft. Sie geht langsam, bleibt immer wieder stehen und schaut aufs Meer, als ob sie etwas suche. Er notiert: Die Frau läßt ihren Blick über die Front der geschlossenen Hotelbauten gleiten, wo die Fenster sich alle gleichen und wie Einschusslöcher aussehen. Sie weiß nicht mehr, hinter welchem Fenster es gewesen ist, wo sie die Nacht mit ihm verbracht hat und ihren Mann verraten hat. Ihr Blick gleitet über die Fassade nach unten zu der Bar und bleibt auf dem Mann hängen, der in Hut und Mantel auf der Terrasse sitzt und zu ihr herüber schaut. Es geht schon wieder los. - Er hört auf zu schreiben.

 

Die Frau schaut immer noch aufs Meer. Sie hat sich nicht herumgedreht. So kann man die Geschichte verfälschen, denkt er. Aber er ist ja hier her gekommen, um eine andere Geschichte zu schreiben. Doch die will ihm nicht so recht von der Hand gehen. Es soll eine sehr depressive Geschichte sein. Die Geschichte eines Mannes, der im Herbst an der Adria entlang wandert und über sein Leben nachdenkt. Es soll die Geschichte eines Mannes sein, der in der Vergangenheit lebt und mit der Gegenwart nicht mehr zurecht kommt und der keine Zukunft hat. Vermutlich wird sich der Mann am Strand von Rimini erschießen, überlegt er sich, doch er weiß es noch nicht genau. Er beginnt seine Geschichten oft, ohne zu wissen wie sie enden.

 

Zu Hause an seinem Schreibtisch war es ihm unmöglich, einen Einstieg in diese Geschichte zu finden, deshalb ist er kurzerhand hier her gefahren, hat sich als einziger Gast in einem kleinen Hotel einquartiert und sitzt jetzt als einziger Gast in dieser Bar beim Bier. Hier hofft er auf die Spur des Mannes zu kommen, über den er schreiben will. Aber was hat die Frau mit dem Kinderwagen mit dieser Geschichte zu tun? Ich beobachte eine Frau und schreibe, daß sie einen Mann beobachtet, der sie beobachtet und der ich bin. Ich beobachte mich selbst, durch die Augen einer anderen, die mich beobachtet, während ich sie beobachte. Unser Blick vermischt sich also und geht im Kreis herum, überlegt er sich und legt den Kugelschreiber zur Seite. Aber das stimmt doch alles nicht, was ich schreibe ist gelogen.

 

Die Frau ist weitergegangen ohne sich umzudrehen. Vermutlich hat sie gar nichts mit der Geschichte zu tun. Was würde der Mann tun, über den ich schreiben will, wenn er diese Frau sieht? Er steht auf und verläßt die Bar, um die Straße zu überqueren. Ein Auto kann nicht mehr rechtzeitig bremsen und überfährt ihn. Nein, das wäre zu blöd. Vielleicht so: Maria!! Er  ruft ihren Namen, als er sie erkennt, springt auf und rennt hinter ihr her. Maria, bleib stehen! Und hinter ihm brüllt der Kellner: Halt! Sie haben noch nicht bezahlt.  So wird das nichts. Es will ihm nicht gelingen, die Frau mit dem Kinderwagen in seine Geschichte einzubauen. Vielleicht hat sie wirklich nichts damit zu tun.

 

Er trinkt sein Glas leer, steckt die Zigaretten ein und winkt dem Kellner um zu bezahlen. Dann verläßt er die Bar, überquert die Straße und geht dann langsam über den Strand zum Wasser. Die Wellen scheinen müde zu sein, so langsam spülen sie über den Sand. Ein paar Boote liegen hier auf dem Trockenen, die Schuppen in welchen die Liegestühle und Sonnenschirme verstaut sind, haben große Vorhängeschlösser, die Duschen geben kein Wasser mehr, die Fenster der Strandbars sind mit Brettern vernagelt. Ob die Frau Maria heißt? Er überlegt sich, warum er sie spontan so genannt hat. Alle Frauen in Italien heißen Maria. Nein, das wäre zu einfach. Es gab mal eine Maria in seinem Leben, fällt ihm jetzt ein. Es war in Sizilien vor acht Jahren. Der Mann, über den er schreiben will, könnte auch eine Maria gehabt haben. Er ist einige Meter hinter der Frau hergelaufen und faßt sie jetzt an der Schulter. Maria, so warte doch. Die Frau dreht sich erschrocken um und schaut ihn an. Es ist eine hübsche Frau mit schwarzen Haaren, die ein zartes Gesicht einrahmen und großen dunklen Augen, die ihn erschrocken und wütend anschauen. Aber es ist nicht Maria. Der Mann stammelt verwirrt eine Entschuldigung und bleibt stehen, während die Frau ihren Kinderwagen weiter schiebt. Maria, das ist Jahre her und war über tausend Kilometer weiter südlich. Wie ein schweres Gewicht senkt sich die traurige Gewißheit auf ihn herab. Er spricht in sein Diktiergerät, während er langsam über den Strand läuft.

 

Die Frau, die er erfunden hat, gefällt ihm. Sie ist noch sehr jung, fast selbst noch ein Kind, so als schiebe sie ihre kleine Schwester in dem Wagen spazieren. Er setzt sich auf den Rand eines Ruderbootes und fischt sich eine Zigarette aus der Manteltasche. Die Frau auf dem Bürgersteig ist inzwischen schon weit entfernt. Die Frau, die er erfunden hat und die nicht Maria ist, steht noch oben an der Straße und schaut ihn an, mit ihren dunklen Augen in dem hübschen Gesicht. Der Mann, über den er schreiben will, muß sich sehr einsam gefühlt haben. Wo ist die Einsamkeit größer? Unter vielen Menschen oder an einem menschenleeren Strand? Bei Letzterem ist sie wenigstens legitim. Durch den Rauch seiner Zigarette läßt er seinen Blick über die Häuserfront gleiten. Alles leerstehende Hotels mit fünf bis sechs Stockwerken. An einem der oberen Fenster erkennt er eine Frau, die mit ausgestrecktem Arm zu winken scheint. Wem winkt die? fragt er sich. Meint die mich? Ist sie in Gefahr und braucht vielleicht Hilfe? Sie winkt von rechts nach links und von oben nach unten und irgendwann erkennt er, daß sie das Fenster putzt.

 

Er wirft die Zigarette in den Sand und erhebt sich. Langsam schlendert er weiter über den Strand. Er hatte Maria damals in Messina getroffen. Er war unterwegs gewesen, um für einen Kriminalroman zu recherchieren, der im Mafia-Milieu spielte. Er hatte sich ein Auto gemietet und Maria hatte in der Autovermietung gearbeitet. Schon die erste Begegnung hatte etwas in beiden ausgelöst und als sie sich später zufällig in einer Bar, sie war mit einer Freundin dort, noch einmal begegneten, hatten sie sich  verabredet. Er lächelt still. Es waren drei wilde Tage gewesen, die sie miteinander verbracht hatten, fast wie im Rausch. Dem Mann, über den er schreiben will, mag es ähnlich ergangen sein.

 

Er nimmt wieder sein Diktiergerät aus der Tasche. Er schaut der Frau, die er für Maria gehalten hat nach und es fröstelt ihn etwas, sodaß er den Kragen seiner Jacke hochschlägt. Wieviele Menschen, die ihm einmal nahe gewesen sind, hat er inzwischen verloren? Dieser Mann dort, der an dem Boot arbeitet, könnte sein Freund Werner sein, mit dem er in den letzten Schuljahren und danach die ganze Stadt unsicher gemacht hat. Aber er sieht nur ein wenig so aus wie Werner, zumindest so, wie Werner damals ausgesehen hat. Inzwischen sind aber schon 25 Jahre vergangen und schließlich werden Freunde auch älter, auch wenn man sie immer noch so wie man sie kannte in Erinnerung behalten hat. Der Mann hat also einen Jugendfreund, der Werner heißt. Warum nicht. Fast jeder in seinem Alter hat mal einen Freund gehabt, der Werner heißt. Er selbst auch, fällt ihm da ein. Ihre Freundschaft endete damals, als er diesem Werner die Freundin ausspannte. Freundin ausspannen, was für eine blöde Formulierung. Ein Pferd wird ausgespannt, aber doch keine Frau. Aber auch diese Freundin gehört schon seit 20 Jahren zur Vergangenheit.

 

Er setzt sich wieder auf ein Tretboot und beobachtet den Mann, der an einem Boot arbeitet und den der Protagonist seiner Geschichte auch beobachtet und der ihn an Werner erinnert hat. Dabei greift er wieder zum Diktiergerät. Werner, bist du so jung geblieben wie damals, oder ist das vielleicht dein Sohn, der dort arbeitet? Er hat nichts mehr von ihm gehört, seit er ihm Karin ausgespannt hat. Er lacht. Karin, die schon immer etwas reifer und erwachsener gewesen ist, als er. Sie war fünf Jahre älter. Die wilde Karin. Er denkt an die Zeit damals, an ihre gemeinsamen Rucksackreisen in die Türkei, die Nächte am Strand. Und die Zukunftspläne. Was sie alles vorhatten, gemeinsam wollten sie die Welt erobern. Nichts haben sie erobert. Und schon gar nicht gemeinsam. Ich habe sie dir weggenommen, sagt er zu dem Mann am Boot, doch sie ebenso schnell selbst auch verloren. Der Mann am Boot versteht ihn nicht, er ist viel zu weit weg. Und überhaupt ist diese Zeit viel zu weit weg. Er schaltet das Diktiergerät ab. Jetzt sitzen sie beide hier auf dem Boot, er und der Mann über den er schreibt, und beobachten den Mann, der nicht Werner ist und denken dabei an Karin. Moment, überlegt der Schriftsteller, Karin war seine Freundin und nicht meine. Ich habe Karin nur erfunden. Dann erhebt er sich wieder und setzt seine Wanderung über den Strand fort.

 

In dem hellen Sand liegen die Reste des Sommers, Wasserflaschen aus Plastik, Sonnencremetuben, Zigarettenschachteln und verlorengegangene Badesandalen, zwischen Muscheln und Seetang. Er kickt mit dem Fuß eine Plastikflasche ins Meer. Der Mann kickt mit dem Fuß eine Plastikflasche ins Meer. Als er weitergeht kommt er an eine hölzerne Plattform mit einem Geländer. Er geht über ein paar Stufen hinauf, lehnt sich an das Geländer und schaut zurück. Er sieht seine Spur im Sand. Weit hinten, am Ende der Hotelfront, erkennt er die Bar, in der er ein Bier getrunken hat und er bekommt wieder Durst. Es ist schwer, eine Geschichte zu schreiben, wenn man nicht so recht weiß, worüber. Ziellosigkeit, das ist es, was ihn mit seinem Protagonisten verbindet. So wie der am Strand entlang läuft, so schreibt er. Und dabei läuft er genauso ziellos am Strand entlang. Mein Protagonist hat schon von mir Besitz ergriffen, überlegt er. Warte nur, du wirst noch unter deiner Vergangenheit zu leiden haben. Er schaltet das Diktiergerät wieder an, während er auf der hölzernen Plattform steht und aufs Meer schaut. Er setzt sich auf die sandigen Stufen, die zu einer hölzernen Plattform führen, auf welcher im Sommer vermutlich getanzt wurde. An allen vier Ecken stehen Pfosten, an welchen noch einige lose Drähte herunterhängen. Hier waren wohl Lampen und Lautsprecher befestigt. Das ist mir noch gar nicht aufgefallen, der beobachtet ja besser als ich, überlegt der Schriftsteller und schaut von oben auf die Treppe, wo der andere sitzt. Karin, das war eine wilde und wichtige Zeit. Wie oft verliebt man sich im Leben? Er denkt, daß man es immer erst hinterher weiß, ob man verliebt gewesen ist. Vorher glaubt man nur es zu sein. Brigitte, das ist seine große Liebe gewesen. Diese teuflichen Gedankengänge. Von dem Mann am Boot zu Werner, von dem zu Karin und dann zu Brigitte. Das mußte ja so kommen. Brigitte war seine Arbeitskollegin, bevor sie seine Frau wurde. Sie waren zwanzig Jahre verheiratet, bevor er sie verlassen hat. Zwei Kinder haben sie, aber auch die hat er seit Jahren nicht mehr gesehen. Oh ja, es war eine glückliche Zeit gewesen, doch ohne Anspruch auf Ewigkeit. Nur ein Narr kann glauben, daß etwas, was er tut, für immer ist. Selbst das Leben ist nicht für immer. Er hält mit dem Sprechen inne. Welch ein Satz. So einfach und doch so wahr: Selbst das Leben ist nicht für immer!

 

Zwanzig Jahre ist eine verdammt lange Zeit. Warum muß er gerade so lange verheiratet sein? Der Schriftsteller hat zehn Jahre mit einer Frau zusammengelebt. Sie hieß Martina. Brigitte, Martina, wo ist da der Unterschied, überlegt er? Der Mann, über den er schreiben will, hat also nach zwanzig Jahren seine Familie verlassen. Was kann ihn dazu bewogen haben, wie leicht oder wie schwer tut man so etwas? Wie er da so unter ihm auf den Stufen sitzt, er ihm auf den Hinterkopf blickt und erkennt, daß die Haare schon etwas dünn werden, kann man es sich kaum vorstellen. Er ist ein Verlierer, denkt er sich. Das muß es sein, ein Verlierer. Einer der gescheitert ist, obwohl ihm alles gelungen ist, oder gerade deshalb!

 

Oben auf der Straße hält ein Auto mit quietschenden Bremsen. Die Beifahrertür öffnet sich und eine Frau springt heraus. Sie schreit etwas in den Wagen, knallt die Tür zu und läuft davon. Der Mann, der hinter dem Steuer gesessen hat, steigt jetzt auch aus und läuft ihr nach. Die Frau kommt über den Strand gelaufen, direkt auf die Holzplattform zu. Der Mann folgt ihr. Warte doch, schreit er. Wo willst du hin? Was soll der Quatsch? Wie schnell tun wir etwas als Quatsch ab, nur weil wir es nicht verstehen, denkt der Schriftsteller. Er hat auch nicht verstanden, warum Martina gegangen ist und Brigitte hat vielleicht nicht verstanden, warum er gegangen ist. Er schaut wieder zu dem Mann auf den Stufen. Als die Frau über den Strand gelaufen kommt, erhebt er sich. Er sieht, daß ihr ein Mann folgt. Die beiden haben sich wohl gestritten. Du sollst mich in Ruhe lassen, schreit die Frau und kommt auf ihn zu. Helfen sie mir, halten sie mir diesen Typen vom Leib, sagt sie und geht über die Stufen auf die Holzplattform. Der Schriftsteller läßt das Geländer los, steckt sein Diktiergerät ein und blickt der Frau entgegen. Was ist los? Was will der von ihr? Warum soll er sich da einmischen? Na, warum wohl? Weil Schriftsteller sich überall einmischen. Unsinn, mache dir nichts vor. Weil sie gut aussieht, das ist der Grund. Der älteste aller Gründe. Gutaussehende junge Frau bittet Mann um Hilfe. Die ursprüngliche Bestimmung aller Männer, Beschützer zu sein. So einfach ist das.

 

Der Mann, über den er schreiben will, würde dem anderen sicher entgegen laufen, ihn aufhalten wollen und Prügel beziehen. Plötzlich verspürt er Lust, seinen Protagonisten verprügeln zu lassen. Er greift wieder zu dem Diktiergerät. Die Frau ist inzwischen ans andere Ende der Holzplattform gelaufen und steckt sich mit zitternden Händen eine Zigarette an. Helfen sie mir bitte, hat sie gesagt und er steht jetzt vor der Treppe, fest entschlossen, den anderen nicht hinaufzulassen. Obwohl ihn das doch alles nichts angeht. Aber was hat er schon zu verlieren. Da ist der Mann heran und stößt ihn zur Seite, noch ehe er sich wehren kann. Der andere steigt über die Stufen und er liegt im Sand. Er hört wie der andere die Frau beschimpft, sie wohl auch schlägt, sie schreit und er erhebt sich, reißt ein Stück von dem Geländer der Plattform ab und schlägt es dem Mann von hinten über den Schädel. Ohne einen Laut von sich zu geben, fällt dieser auf den staubigen Holzboden und rührt sich nicht mehr. Und er steht jetzt der Frau gegenüber und läßt die Holzlatte langsam sinken. Beide schauen sie sich schweigend an. So war es zwar nicht gedacht, aber die Szene gefällt ihm doch.

 

Die Frau hat inzwischen die Holzplattform erreicht. Um Hilfe gerufen hat sie nicht, auch nicht gebeten, ihr diesen Typen vom Leib zu halten. Das war nur Bestandteil der Geschichte. In Wirklichkeit kommt sie schweigend die Treppe hinauf, hält eine Zigarette in der Hand und bittet ihn um Feuer. Er gibt es ihr, steckt sich auch eine an und beide rauchen schweigend. Der Mann, der ihr gefolgt ist, ist auf dem Strand stehen geblieben und geht jetzt langsam zurück zum Auto. Feigling, denkt der Schriftsteller, denn er hat den losen Balken am Geländer schon im Auge. Die Frau fragt ihn, was er hier macht. Das ist eine gute Frage, ja, was mache ich hier eigentlich? Was soll er ihr sagen? Ich versuche eine Geschichte zu schreiben und darin hat gerade jemand ihren Freund erschlagen? Er hat sich noch nie mit jemand geprügelt. Nicht daß er feige wäre, oder einem Streit ausgewichen wäre, aber es hat sich halt nie ergeben. Gerade jetzt, wo er mit seinen Gedanken bei Martina ist und eigentlich sein Protagonist bei Brigitte sein sollte, taucht diese Frau auf und verwirrt sie beide. Sie drängt sich in die Geschichte, ohne hineinzugehören.

 

Während sie sich schweigend gegenüber stehen und sich anschauen, kommt die Dämmerung. Nein, das geht nicht. Wie langsam oder wie schnell ist denn so eine Dämmerung? Sicher zu langsam, so lange stehen die beiden nicht dort. Das Kommen der Dämmerung kann man nicht in einem Satz beschreiben. Es geschieht langsam im Hintergrund. Rauchen ist gut, das hat er ja auch getan und sie sowieso. Eine Weile stehen sie sich so gegenüber und schauen sich durch den Rauch ihrer Zigaretten an. Dann kommt sie langsam auf ihn zu, sie ist kleiner als er, und zieht seinen Kopf zu sich hinunter und küßt ihn auf den Mund. Er hat die Holzlatte auf den Boden fallen lassen und schlingt seine Arme um sie. Beide halten sie noch ihre Zigaretten in den Händen.

 

Er bemerkt, wie sie dem Mann nachschaut, als dieser langsam zurück zum Auto geht und sein Blick liegt auf ihrem Mund. Sie lächelt ihn an und geht dann langsam über die Stufen von der Plattform hinunter auf den Strand und folgt dem Mann. Er schaut ihr nach und jetzt kommt die Dämmerung tatsächlich. Wie sie so langsam davon geht und er alleine zurück bleibt, da spürt er wieder dieses Verlassenheitsgefühl, das ihn von Zeit zu Zeit immer wieder befällt, seit Martina ihn verlassen hat. Dabei hat er es gewußt, dass sie gehen wird. Wenn nicht, wäre er gegangen. Sie ist ihm nur zuvor gekommen. Die Zeit war halt einfach abgelaufen nach zwanzig Jahren. Halt, es waren ja nur zehn. Zwanzig waren es bei ihm. Sie lösen sich aus ihrer Umarmung und sie tritt einen Schritt zurück zum Geländer, dreht sich um und schaut auf das Meer. Und er denkt jetzt an Susanne. Jetzt gebe ich dir`s aber! Damals, als sie sich das erste mal umarmt haben, ist es auf einer Mauer am Meer gewesen. Damals hatte er seine Frau Brigitte noch nicht verlassen, zumindest sich noch nicht dazu bekannt. Aber es war das Ende nach zwanzig Jahren. Da hatte sich etwas totgelaufen. Susanne war nur der Katalysator, der das sichtbar gemacht hat. Aber was hat er nun? Hier an diesem verlassenen Touristenstrand? Keinen Werner, keine Karin, keine Brigitte, keine Susanne, noch nicht einmal eine Maria. Eine fremde Frau steht vor ihm und einen fremden Mann hat er erschlagen. Sie sind ihm alle fremd geblieben, in seinem Leben, Frauen wie Männer und am meisten er selbst. Langsam verläßt er die Plattform, läßt die Frau und den Mann am Boden hinter sich zurück und setzt seine ziellose Wanderung über den Strand fort. Er wirft seine Zigarette in den Sand und verläßt jetzt auch die Plattform.

 

Er spürt die Müdigkeit in seinen Beinen und seine trockene Kehle und hat den Wunsch, einfach die Augen zu schließen und alles zu vergessen. Er bleibt stehen, schließt die Augen kurz, doch es nützt nichts. Er sieht ihn am Strand entlang laufen, er sieht mit seinen Augen, er hat sich verselbständigt. Er muß die Geschichte zu Ende bringen. Draußen auf dem Meer fährt mit tuckerndem Motor ein Boot vorbei. Er öffnet die Augen wieder und sieht das Boot, den Mann am Ruder, unterwegs zum nächsten Hafen. Was Giorgio wohl macht? Er ist damals sein Freund gewesen, als er seine Familie und Deutschland verlassen hat, um auf der kleinen Insel zu leben. Er wird wohl noch immer mit seinem Boot Touristen um die Insel herumfahren, seine Zimmer vermieten und mit den Männern Grappa trinken. Giorgio war ein zufriedener Mensch. Er wird wohl nie zufrieden sein. Er war es nicht mit dem alten Leben und er war es nicht mit dem neuen Leben. Sein Blick folgt dem Boot und seine Gedanken sind wieder bei Susanne. Sie ist die letzte Frau gewesen, die ihm etwas bedeutet hat, aber er ist nicht bei ihr geblieben. Oder sie nicht bei ihm. Das ist manchmal schwer zu trennen. Sie hat ihm damals etwas von seiner verlorenen Jugend zurückgegeben, zumindest hat er das geglaubt. Daß es ein Irrtum war, hat er erst später gemerkt. Man kann seiner Zeit nicht davonlaufen.

 

Der Motor des Bootes ist inzwischen verklungen und der Schriftsteller nähert sich wieder einigen Häusern an der Uferpromenade. Man kann seiner Zeit nicht davonlaufen, hat sein Protagonist gesagt. Auch er kann das nicht. Wie oft hat er es versucht, ist immer wieder in seine Geschichten geflüchtet, zeitlose Abenteuer. Die Lebenden leben ewig, die Toten sterben immer wieder neu. Manchmal fragt er sich, ob er seine Zeit mit Martina nicht auch nur geschrieben hat? Die Geschichten haben ihm nie geholfen. Immer wenn eine zu Ende war, wartete hinter der letzten Seite wieder die Realität. Und die war unverändert. Aber es ist eine Sucht geworden, Menschen zu erfinden, Schicksale zu lenken, eigene Welten zu erschaffen. Es ist ihm möglich, ein ganzes Leben auf ein paar Seiten zusammenzufassen. Und sein eigenes? Wieviele Seiten würde es füllen? Und wieviele leere Seite würde es enthalten? Immer wenn er eine Geschichte beendet hat, ist er in ein tiefes Loch gefallen, hat wieder dieses Verlassenheitsgefühl gespürt. Zufrieden ist er nicht geworden, auch nicht durch das Schreiben.

 

Die Unzufriedenheit ist es auch, die ihn mit seinem Protagonisten verbindet. Ich kann mit dir machen, was ich will, das ist nicht das Problem. Aber was mache ich mit mir? Nein, die Jugend hat er sich nicht zurückholen können, auch nicht die Vergangenheit. Und das ist letztendlich auch der Grund, warum er jetzt an diesem dämlichen Touristenstrand in dieser unwirtlichen Jahreszeit entlang läuft und trübsinnige Gedanken hat. Er hat ganz einfach die Nase voll, auch von den Menschen, die ihm hier begegnen und doch beobachtet er sie genau, so als erwarte er noch ein Zeichen von ihnen und habe Angst, es zu übersehen. Die Häuser sind niedriger geworden, die Abstände zwischen ihnen größer. Der Mann hat das Ende des Ortes erreicht. Noch eine Bauruine, ein verwildertes Wiesengrundstück, dann ein rostiger Zaun, mit Bambusmatten als Sichtblenden und schließlich ein Tor mit einem Vorhängeschloß. Der Schriftsteller schaut durch das Gittertor auf den Campingplatz. Ein paar Wohnwagen stehen dort, mit Plastikplanen eingepackt, von Blättern zugedeckt und die Reifen platt. Wegweiser zeigen die Richtung zur Bar, zu den Toiletten, zur Reception, aber niemand geht die Wege, die ohnehin nur an verschlossenen oder vernagelten Türen enden würden. Ein verlassener Campingplatz ist der Inbegriff der Einsamkeit, denkt er und spricht es in sein Diktiergerät. Wie oft hat er auf solchen Plätzen übernachtet, als Einziger oder mit wenigen Anderen, ebenso vergessen oder verloren wirkend wie er. Selten ist er mit diesen Leuten ins Gespräch gekommen. Wie er waren sie alleine und wollten es bleiben. Ganz anders als die Wohnmobiltouristen, die in der Saison zu Tausenden die Campingplätze überschwemmen, mit ihren rollenden Reihenhäusern. Unter ihnen hat er sich erst richtig einsam gefühlt. Er liebt diese traurigen leeren Campingplätze, die ihn selbst auch jedesmal traurig gemacht haben. Vielleicht liebt er ja die Traurigkeit?

 

Der Schriftsteller steckt das Diktiergerät in die Tasche und sich eine Zigarette an. Früher ist er auch oft auf solchen Campingplätzen gewesen, zum Beispiel mit Martina, später dann nur noch in Hotels. Früher ist er noch zum Vergnügen verreist, später nur noch um zu schreiben oder zu recherchieren. Dann hat er meist in Hotels gewohnt, so wie jetzt. Nicht weniger einsam und nicht weniger traurig. Als Einzelreisender bekommt man immer die Zimmer mit Fenster zum Hof. Der Blick aufs Meer ist für Paare reserviert, die dann nur im Bett liegen, während der Einzelne alleine am Fenster sitzt und in den Hof schaut. Er lacht. Aber nein, das ist wohl nur ein Vorurteil, dass Paare immer im Bett liegen. Auf so eine Idee kann nur ein Neider kommen, der alleine unterwegs ist. Das mit den Zimmern ist aber kein Vorurteil. Also weiter. Er beobachtet eine Katze, die auf ihrem abendlichen Raubzug über den Campingplatz schleicht. Im Sommer wird sie von den Gästen gefüttert, jetzt muß sie selbst für Futter sorgen. Ihr geht es wie den Menschen, die hier leben und arbeiten. Als er damals mit Karin in der Türkei gewesen ist, war es oftmals das Schönste, am späten Abend nach langer anstrengender Fahrt oder einem Fußmarsch, von weitem die Lichter eines Campingplatzes zu sehen. Oftmals wurden sie aber enttäuscht, weil der Platz geschlossen war, oder es sich nur um einen Schrottplatz handelte, der mit Fahnen und Lichtern versehen war. Wie oft haben sie sich dann in ihrem Zelt verkrochen, müde und verschwitzt, aber verliebt. Später ist er dann mit Brigitte selbst zu so einem Wohnwagentouristen mutiert, viele Jahre lang, zu viele Jahre lang. Bis er endlich den Absprung geschafft hat, der freilich ein Sprung ins Nichts gewesen ist. Er wirft seine Zigarette auf den Boden, schaltet das Diktiergerät ab und geht langsam weiter.

 

Ein paar zerrissene Fahnen hängen entlang des Campingplatzes, deren Nationalität nicht mehr zu erkennen ist. Inzwischen ist es dunkel geworden. Ein Sprung ins Nichts, hat er gerade auf sein Band gesprochen. Der Beginn des neuen Lebens war für ihn ein Sprung ins Nichts - und für ihn? Hat er überhaupt ein neues Leben begonnen? Er hat damals schon geschrieben, als er noch mit Martina zusammen gelebt hat und er schreibt jetzt noch. Um zu erfahren, was sich verändert hat, müßte er seine Bücher lesen. Vielleicht haben sich die Inhalte verändert. Die Verkaufszahlen sind jedenfalls zurückgegangen.

 

Die Beleuchtung der Uferstraße erhellt noch einige Meter des Strandes, man kann noch die weißen Schaumkronen der Wellen erkennen, die Brandung ist etwas stärker geworden, doch dahinter verliert sich das Meer in der Dunkelheit. Wegen der Wolken sind weder Mond noch Sterne zu sehen. Vor ihm werden jetzt die Lichter von Rimini sichtbar. Er muß diese Geschichte endlich zu Ende bringen. Der Mann hat seinen Weg fortgesetzt, die Dunkelheit die ihn umgibt ist die gleiche wie die, die in ihm ist. Längst sind keine Menschen mehr unterwegs, noch nicht einmal Hunde werden ausgeführt. Seine Hand tastet nach der Pistole, die er in der Jackentasche stecken hat. Er trägt sie seit Jahren mit sich herum. Geholfen hat sie ihm nicht, gegen seine Angst. Der Wind und die Wellen sind etwas stärker geworden. Als vor ihm die Lichter von Rimini auftauchen, überquert er wieder die Straße und setzt seinen Weg auf dem Strand fort. Die Lichter, das sind meistens nur Straßenlaternen, denn die Fenster der Häuser am Stadtrandgebiet sind fast alle unbeleuchtet. Er steht da, die Faust in der Manteltasche um den Griff der Pistole, denn die hat er nicht erfunden, und schaut zu den dunklen Fenstern hinauf. Die Bars sind geschlossen, am Strand liegen wieder ein paar scheinbar vergessene Tretboote.

 

Und jetzt sieht er doch einen Mann, der seinen Hund spazieren führt. Ein alter Mann und ein alter Hund. Beide bewegen sich müde und langsam und sie laufen einige Meter voneinander entfernt scheinbar zufällig in die gleiche Richtung, so als würden sie gar nicht zusammengehören. So wie das bei alten, lang verheirateten Ehepaaren oft der Fall ist. Beide laufen auf ihn zu und in seine Geschichte. Er sieht einen Mann mit einem Hund auf sich zukommen. Gerade hat er noch überlegt, daß hier niemand unterwegs ist und noch nicht einmal Hunde spazieren geführt werden und schon kommt ihm ein Mann mit einem Hund entgegen und macht ihn zum Lügner. Die Welt hat mit ihm schon immer gemacht, was sie will. Der Mann ist alt und der Hund ist es auch. Natürlich hat er das auch bemerkt. Obwohl sie unterschiedliche Zeitbegriffe haben. Das ist ein interessanter Gedanke. Jeder ist nach seiner Zeit alt. Der Mann nach siebzig Jahren, der Hund nach zehn. Er selbst ist es vielleicht mit fünfzig und Martina nie. Und andere sind niemals jung gewesen. Als er sie auf sich zukommen sieht und bemerkt, wie sie ihre Füße und Pfoten scheinbar mühsam durch den Sand bewegen, fühlt er sich mit einem mal auch sehr alt. Es kommt ihm plötzlich vor, als sei er sein Leben lang an diesem Strand spazieren gegangen, an diesem  oder an tausend anderen. Und eigentlich ist er das ja auch. Und immer hat er seine Geschichte wie einen unsichtbaren Schleier hinter sich hergezogen, der immer länger und immer schwerer geworden ist. So wie dieser Mann. Das ist wohl das Schlimmste am Alter: Man hat nicht einmal mehr die Kraft, sich dagegen zu wehren.  Er steht da und beobachtet den Mann, der dicht vor ihm vorüber geht, während der Hund hinter ihm vorbei läuft. Beide scheinen ihn nicht zu sehen, er ist wohl unsichtbar geworden. Oder er steht hier in einer anderen Zeit am gleichen Ort und dieser alte Mann ist er selbst in 30 Jahren? Er schaut ihm nach, will ihm was zurufen, obwohl er doch weiß, daß der ihn niemals hören wird und deshalb läßt er es. Vielleicht hat er sich ja auch gewünscht, daß der Alte etwas zu ihm sagt, doch das hätte er dann sicher nicht gehört. Er hat ja noch nie auf das gehört, was andere zu ihm gesagt haben. Nicht auf Karin, nicht auf Brigitte, schon gar nicht auf seinen Vater. Wie kommt er denn jetzt auf seinen Vater, denkt der Schriftsteller, während er dem alten Mann mit dem Hund nachschaut. Der hat ja nun wirklich nichts mit der Geschichte zu tun.

 

Mit dem Zuhören hat er sich auch immer sehr schwer getan. Schriftsteller schreiben und reden gerne, aber zuhören? Was Martina gesagt hat, hatte er wohl gehört, aber hatte er es auch verstanden? Er  löst seinen Blick jetzt von dem alten Mann und dem Meer... Das ist Hemingway, denkt er, das kann ich nicht schreiben. Aber der hat sich auch erschossen! Er wendet seinen Blick jetzt von dem alten Mann ab, läßt ihn über das schwarze Meer gleiten und setzt seinen Weg über den Strand von Rimini fort. Der Strand ist hier ziemlich breit und die Lichter von der Uferstraße erreichen ihn  nicht. Am liebsten würde er jetzt einfach in das Meer hineinlaufen, in die Dunkelheit, die Endlosigkeit und die Endlichkeit. Aber dieser Strand ist weder endlos noch endlich, er ist ganz einfach einsam und verlassen. Auf der Uferstraße fährt ein Auto vorbei. Das Scheinwerferlicht streift ihn kurz wie ein Schwerthieb. Und er begreift, daß er sich alle Verletzungen selbst zugefügt hat. Er bewegt sich nicht mehr, steht im Sand dicht am Wasser und spürt wie die Wellen seine Schuhsohlen umspülen. Hier werde ich die Geschichte beenden, denkt er und spricht: Der Mann zieht die Pistole aus der Tasche und schießt sich eine Kugel in den Kopf. Er zieht die Pistole aus der Tasche und schießt sich eine Kugel in den Kopf.

 

 

München – November 1997                                    © helled-lyrik münchen. Alle Rechte vorbehalten.